Und das Licht leuchtet in der Finsternis
und die Finsternis hat es nicht erfasst.
Joh. 1, 5
Gedanken zur stillsten Zeit des Jahres
In der westlichen Welt zählt
der Advent längst nicht mehr zur stillsten Zeit des Jahres. Nach wie vor ist er
jedoch – zumindest in unseren geographischen Breiten – die dunkelste
Jahreszeit, da bis zur Wintersonnenwende die Tage immer kürzer und die Nächte
länger werden. Von Natur aus ist der Mensch jetzt vermehrt ruhebedürftig, und er
wäre gut beraten, diesem Bedürfnis wenigstens ab und zu nachzugeben und den Advent,
die Zeit des Wartens auf die Heilige Nacht, für mehr Besinnung, für Rück-, Vor-
und Innenschau zu nutzen. Dann könnte es geschehen, dass sich der durch dunkle
Weltennacht irrende Mensch auf das wahre Ziel seiner Hoffnung und Sehnsucht
besinnt und – sofern es erforderlich ist – das zulässt, worunter in der
christlichen Mystik die „Nacht der Sinne“[1]
verstanden wird.
Was ist unter der Nacht der Sinne zu verstehen, die
wohl für jeden Menschen irgendeinmal anbricht und die ebenso gut als Adventzeit
des Lebens bezeichnet werden könnte?
Für jeden Menschen kommt früher oder später der
Augenblick, da der Abglanz materieller Werte und herkömmlicher
Wertvorstellungen durch Umstände, die wir zumeist als widrig bezeichnen,
verblassen. Wir fühlen uns ausgestoßen, zurückgewiesen, wertlos und aus unserer
äußeren sowie inneren Heimat vertrieben. Orientierungslos tappen wir umher und
suchen unseren Weg in einem Irgendwo, in dem es - zumindest dem momentan
getrübten Wahrnehmungsvermögen nach - stockdunkel ist. Wir vermeinen, allein
gelassen und ungeliebt in unabsehbar Abgrundtiefes zu stürzen.
Was wir als grausamen Schicksalsschlag erleben, ist oft
nur die Beseitigung einer von uns mühsam errichteten Bühnendekoration einer
Theaterscheinwelt, die uns dermaßen faszinierte, dass wir darüber den wahren
Sinn unseres Daseins vergaßen, blind für die hinter dieser Scheinwelt wirkenden
Kräfte und taub für eine andere Stimme als die unseres Egos geworden sind. Wenn
Trugbilder verblassen und Gauklerlieder verstummen, senkt sich die Nacht der
Sinne über uns, in deren Dunkelheit alles, was uns bisher erfreute, zerfließt. Dann
fragen wir uns, wie es geschehen konnte, dass wir uns auf einmal wie Blinde und
Taube vorkommen.
Weshalb sind wir in die Dunkelheit gestürzt? Es
geschah, da wir die einzige sichere Stütze des so genannten Unfassbaren
losließen und meinten, das unseren Gedanken, Gefühlen und Händen Fassbare
festhalten zu müssen. Dem Abglanz haben wir gehuldigt, als sei er nicht
Abglanz, sondern Quelle des Lichts, unsere Sicherheit haben wir in der
sichtbaren Welt, die ständigem Wandel unterworfen ist, gesucht und wollten dem
Wandelbaren den Stempel der Beständigkeit aufprägen. Unserem Eigen-Sinn sind
wir aufgesessen und haben diesen mit dem Sinn des Lebens verwechselt. Wenn die
Irrlichter des Augen-Scheinlichen verblassen, tut sich vor unseren Augen eine
Finsternis auf, dass wir befürchten, die Sonne sei für immer untergegangen.
Die meisten von uns haben solche Zeiten bereits
durchgemacht, manch einer erlebt sie vielleicht eben jetzt. Und diesen möchte
ich eine überaus wirksame Zauberformel verraten, wodurch Unerträgliches in
Erträgliches verwandelt wird. Es ist dies ein schlichtes „Ja“ zu dem, was ist
und wie es ist. Nicht durch Auflehnung gegen eine Situation, sondern durch das
Annehmen derselben werden zerstreute Kräfte gesammelt, was zuerst einmal das
Durchhaltevermögen stärkt, das auf dem Weg während der Adventzeit des Lebens
vonnöten ist, da wir unter Umständen eine beachtliche Durststrecke im
Niemandsland zwischen Schein- und Seinswelt zurückzulegen haben. Wir lassen
Ägypten, das Land weltlicher Prunkentfaltung, mit all seinen Schatzkammern,
prächtigen Palästen und Tempelanlagen hinter uns und machen uns auf den Weg ins
gelobte Land. Doch zwischen Ägypten und dem gelobten Land liegt die Wüste.
Man sagt von der Nacht der Sinne, sie sei eine Zeit
innerer Trockenheit. Und der Weg führt uns mitten hinein in die innere
Finsternis und Trockenheit. Allein auf unsere äußeren Sinne können wir uns da
nicht mehr verlassen. Wir sind gezwungen, nach Innen zu schauen und zu
lauschen, da es scheint, als würde von außen keinerlei Hilfe zu erwarten sein.
Und das ist auch der eigentliche Zweck der Übung, der Zweck der Misere oder wie
immer wir es nennen mögen.
Wenn sich im Äußeren nichts mehr als Rettungsanker
anbietet, sind wir gezwungen, nach innen zu gehen. Und bereits der erste
Schritt in diese Richtung zählt wohl zu den wichtigsten unseres bisherigen
Lebens, wenngleich es den Anschein erweckt, als würde rein gar nichts
geschehen. Doch das sieht nur anfänglich so aus.
Wir sind unterwegs zu einer Quelle, die tief in
unserem Inneren entspringt. Diese Quelle allein vermag es, den Durst unserer
Bedürftigkeit zu stillen. Dort dürfen wir uns laben und ungestraft aus einer
Fülle schöpfen, die niemals versiegt. Dort werden Wunden geheilt, die uns
geschlagen worden sind, und die Spuren von Tränen, die wir geweint haben,
werden hinweg gewaschen. Und am Grunde des Gewässers funkelt ein Edelstein, in
dessen Schliff sich das Licht einer Sonne bricht, die, unvergleichlich
strahlender als die Spenderin des weltlichen Tageslichts, am Firmament unseres
innersten Seins leuchtet. An diesem Licht erhellen sich unsere Augen. Sie
werden sonnenhaft und somit wahrhaft sehend. Nur das seinem Wesen nach
Lichthafte kann Licht erkennen und demzufolge ausstrahlen. Die Nacht der Sinne
lichtet sich.
Es gibt ein Lied, dessen Refrain lautet: „Oh Licht vom
Lichte.“ In jedem Menschen ist ein derartiges Licht vom Lichte. Das ist das
Lebenslicht oder der Seelenfunke, es ist das in die Materie gefallene, das von
Materie umschlossene Licht. Es ist das Licht, das in der Finsternis leuchtet,
aber die Finsternis kann es nicht begreifen und erkennen. Mit Finsternis ist
die Materie gemeint und alles auf die Materie ausgerichtete Denken, Fühlen und
Handeln. Dieses Licht zu begreifen, zu erkennen und zu sehen, ist nur dem Licht
selbst oder dem, der zu Licht geworden ist, möglich. Und wir werden zu Licht,
sobald wir es in uns selbst erschauen.
Wenn dies geschieht, haben wir den Advent des Lebens
mit seiner Düsternis und Trockenheit hinter uns gelassen, und die Weltennacht
wird zur Heilige Nacht, in der uns der Stern der Führung leuchtet, dem wir gleich
den Weisen aus dem Morgenland folgen können, bis wir am Ziel der Reise
angelangt sind. Dort, im Stall zu Bethlehem, wurde ein Kind geboren, eine
göttliche Liebesgabe an die Menschheit. Das wahre Wunder der Heiligen Nacht ist
die Geburt des Heilands. Und er, der das Licht der Welt ist, wurde aus dem
Schoß einer Frau geboren.
Doch was wäre das für ein armseliges Wunder, würde es
sich auf das Geschehen irgendeiner Nacht in irgendeinem fernen Land
beschränken, von dem Menschen einander von Generation zu Generation wundersame
Geschichten erzählen. Das, wovon geschrieben steht, es habe sich vor etwa
zweitausend Jahren in Bethlehem zugetragen, kann jederzeit in jedem Menschen stattfinden.
Wir sind auf diese Welt gekommen, um die Geburt des göttlichen Kindes in uns
selbst zuzulassen und zu erleben. Alles kann jederzeit wie eben in jener Nacht
wieder geschehen. Sogar der Stall als Geburtsstätte, Ochs und Esel, Heu und
Stroh sind immer und überall vorhanden. Denn der Stall ist nichts anderes als
unsere Körperlichkeit, die, mehr oder weniger gut zurecht gezimmert, unsere
animalische und vegetabile Natur – also Heu und Stroh, Ochs und Esel -
beherbergt.
Man kann es drehen und wenden, wie man will. Ein Stall
bleibt ein Stall, egal ob es sich um einen großen und mit allen Schikanen
ausgestatteten oder um einen kleinen handelt. Zur geheiligten Stätte wird er
erst durch das Mysterium der Heiligen Nacht, durch das Kind des Lichts, das aus
dem Schoß des inneren, mütterlich-jungfräulichen und bedingungslos liebenden
weiblichen Prinzips geboren worden ist.
Es ist die Seele, aus der das Licht unseres Lebens
hervorgeht, aus der es in uns geboren werden kann. Erst dadurch werden wir zu
dem Menschen, als der wir von Anfang an gedacht waren. In diesem Licht
erschauen wir unser wahres Selbst und sind infolgedessen in der Lage unsere
Aufgaben zu erkennen und diesen nachzukommen.
Mystiker bezeichnen die Seele als die Braut des
Göttlichen, die in die materielle Welt herabgestiegen ist. Sie ist Trägerin und
Hüterin des Seelenlichts, das aus ihr hervordrängt. Doch in der Stunde ihrer
Niederkunft wird ihr in Palästen, vornehmen Häusern und so genannten ordentlich
geführten Herbergen kein Quartier gewährt. Zu sehr ist man dort mit Wohlstandsaktivitäten
aller Art ausgelastet, stellt sich taub, überlässt derlei Scherereien lieber
irgendwen, der gerade nichts Wichtigeres zu erledigen hat. Infolgedessen vollzieht
sich das Wunder in einem armseligen Stall, fernab des Weltgetriebes.
Aber nicht nur in religiösen und mystischen Schriften
werden die verheerenden Folgen für Mensch und Natur aufgezeigt, die durch die Missachtung
und Verstümmelung seelischer Kräfte hervorgerufen werden. Viele der
bekanntesten Märchen und Sagen kreisen ebenfalls um dieses Thema. Denken wir
nur an das Aschenputtel, an das Schneewittchen, das Nusszweiglein oder an das
Mädchen ohne Hände.
In diesen Geschichten wird das Mädchen als Sinnbild
der Seelenkraft zu niederen Diensten herangezogen, verstoßen, um materieller
Werte wegen verschachert, verstümmelt, nicht selten trachtet man ihm sogar nach
dem Leben. Die Seele, ausgestattet mit dem Attribut des Weiblichen, hat meist
ein schweres Los zu ertragen, das ihr, wie in all diesen Geschichten erzählt
wird, niemand anderer als der Mensch auferlegt - ebenso wie auch nur der
Menschen sie wieder aus ihrer Not befreien kann.
Unser Wert ist nicht von äußerer Macht und von
weltlichem Besitz abhängig. Jeder Mensch ist einzigartig, und das Wunder -
vergessen wir es nicht - vollzieht sich im Verborgenen. Wenn wir guten Willens
sind, werden wir das Licht, das in der Finsternis leuchtet, sehen. Wir werden
es in allem und in jedem sehen - auch in den Augen jener, die, von Leid
niedergedrückt, der Hilfe bedürfen. Jedes Leid ist schmerzlicher Ausdruck des
in der Materie gefangenen Seelenlichts, das sich nach Befreiung sehnt. Selbst
sehend geworden, werden wir uns diesem unter dem Staub des Vergänglichen fast
erstickten Licht zuneigen und helfen, dass es in seinem Elend nicht völlig
verlöscht.
Es ist
das Licht des Mitgefühls und der Nächstenliebe, das sich durch uns in der Welt
des Augenscheinlichen manifestieren kann. Durch dieses Licht kann uns selbst,
unserem Nächsten, ja der ganzen Welt Heilung zuteil werden.
Mystischer Wald
Foto: Anna Manger |
Wien, 10. Dezember 2013
[1] Johannes vom Kreuz (1542 – 1591), spanischer Mystiker und
Dichter, sagte, die Seele müsse zuerst einmal die Nacht der Sinne durchwandern,
um Vollkommenheit zu erlangen. Während der Nacht der Sinne herrsche innere
Finsternis und Trockenheit, man fühle sich von allem und jedem, ja sogar von Gott
verlassen. Und dennoch sei diese Nacht eine selige, da die Verfinsterung des
Geistes keinen anderen Zweck habe, als die Seele in jeder Hinsicht zu
erleuchten.