Freitag, 29. August 2014

Unsere Bruder Esel


Bruder Esel lässt grüßen

Wohl jeder hat irgendeinmal irgendeine Geschichte von ihm gehört, vom zärtlichsten aller Heiligen, vom Il Poverello, der mit den Tieren sprechen konnte und niemals in seinem Minnedienst für die „heilige Dame Armut“ erlahmte. Er selbst bezeichnete sich als der „geringste“ unter den Minderbrüdern und Adolf Holl nennt ihn in der Franziskus-Biographie „der letzte Christ“. Über Zeit und Raum hinweg hat dieser Mann aus Assisi auch mich berührt. Einige Male. Und das sehr nachhaltig. So auch mit seinem Gleichnis vom „Bruder Esel“. 

Der Heilige Franziskus bezeichnete seine körperliche Ausstattung als Bruder Esel. Das war nicht abwertend gemeint, vielmehr wusste er, dass ihm mit seiner Körperlichkeit jemand zur Verfügung stand, der ihn – damit meinte er seine Seele - durch das Leben trug. Und Franziskus, der alle Lebewesen, die ja Geschöpfe Gottes sind, liebte, empfand natürlich auch Liebe und Mitgefühl für seine Körperlichkeit, für seinen Bruder Esel.

Nun hat jeder Mensch einen solchen Bruder Esel, der ihn (seine Seele) durch das Leben trägt. Dieser Esel ist mit einem Körper und mit einem sogenannten Eselsverstand ausgestattet. Desgleichen hat er Eselsbedürfnisse und Eselsgefühle.
Wenn wir auch nur halbwegs vernünftig sind, werden wir diesen Bruder Esel (oder diese Schwester Eselin) nicht vernachlässigen, sondern pflegen und gut behandeln, da es sich bei diesem Lasttier unserer Seele um ein Lebewesen handelt, das uns dienlich ist und der Fürsorge bedarf. 

Wir sollten jedoch nicht dem Irrtum anheim fallen zu glauben, wir selbst seien der Esel, was jedoch allzu oft, ja sogar meistens der Fall ist. Ehe wir bis drei zählen können, ist es geschehen. Wir identifizieren uns dermaßen mit dem Esel, also mit unserem Körper, seinen Gedanken, Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen, dass wir über kurz oder lang davon überzeugt sind, derjenige zu sein, der uns ja nur durch das Leben zu tragen hat. Und dementsprechend benehmen wir uns dann.  

In diesem Sinn drängt sich der Vergleich auf, dass die meisten der sogenannten normalen Gespräche unter Menschen, wozu auch alle politischen Diskussionen und Verhandlungen zählen, mit Eselsverstand geführt werden und vorwiegend um Eselsbedürfnisse kreisen. Desgleichen werden menschliche Beziehungen zumeist von Eselsgefühlen bestimmt. Damit haben nicht nur wir, sondern auch unsere geistigen Schutzwesenheiten ihre liebe Not. Wie sollen sie uns und unsere Probleme ernst nehmen, wenn wir uns aufführen, als wären wir davon überzeugt, Esel zu sein?  

Vieles, das wir vom Eselsstandpunkt aus betrachten und bewerten, kommt uns erstrebens- und begehrenswert oder tragisch und ablehnenswert vor. Der Bruder Esel hat immer Angst, er könnte zu kurz kommen, was auf uns abfärbt. Dann leiden wir. Das kann sich schlagartig ändern, wenn wir aus dieser vermaledeiten Identifikation aussteigen und uns zu einer objektiveren Sichtweise durchringen. Kabarettisten sind gute Beobachter dieses Phänomens und verstehen es, ihr Publikum zu unterhalten, indem sie die Eselsmentalität der Menschen ins Visier nehmen. 

Wie kommt es nur, dass wir uns dermaßen mit dem Bruder Esel identifizieren? Dass wir ein Eselsdasein für unser unabwendbares Geschick halten? Vielleicht lohnenswert, einmal etwas gründlicher darüber nachzudenken.