Tagein, tagaus pinkelt er vor sich hin, der
Manneken Pis. Seit etwa vierhundert Jahren ist das kleine, gerade einmal
einundsechzig Zentimeter große, besser gesagt kleine wasserlassende Männchen
aus Bronze eines der Wahrzeichen von Brüssel, der belgischen Hauptstadt, in der
sich auch der Hauptsitz der Europäischen Union befindet. Ein seltsames Paar,
der urinierende Knabe und das Zwölfstern-Banner der EU, von dem es unter
anderem heißt, es symbolisiere den Kopfschmuck der Mondsichelmadonna.
Es ist bekannt, dass sich das Kräftemessen unter
Buben keineswegs auf Rempeln, Raufen und Haxlstellen beschränkt. Nein, sie
pinkeln von klein auf um die Wette. Wer es schafft, seinen Urinstrahl im
größten Bogen am weitesten zu lenken, ist Sieger, wird zum Anführer gekürt, hat
das Sagen, auch wenn es einmal nicht nur ums Pinkeln geht. Wann immer ich einen
Mann fragte, ob das tatsächlich gängige Praxis sei, erfolgte bestätigendes
Augenzwinkern und genüssliches Reiben der Handflächen. Kann sein, dass ich
zumeist Pinkelsieger angesprochen habe. Und die Vermutung, Pinkeln sei für
männliche Wesen eine rituelle Handlung, ist naheliegend. Nehmen sie – Buben und
Männer - in Gegenwart von Artgenossen doch ihr bestes Stück in die Hand, um
ihresgleichen zu zeigen, wozu sie fähig sind.
Fakt ist, dass Mädchen und Frauen der männlichen
Pinkelfähigkeit wenig bis nichts entgegenzusetzen haben. Müssen sie in
Frohnatur Pipi machen, wie sie es nennen, gehen sie hinter dem nächstliegenden
Gebüsch in die Hocke. Ginge es darum, ein Revier zu markieren, wäre ihr auf
diese Weise zustande gekommenes Pinkelergebnis nicht nennenswert. Für kleine
und große Buben, eine lachhafte Leistung. Nicht einmal des Ignorierens wert.
Auch hier zeigt sich, wie unterschiedlich Buben und Mädchen sind, eine
Unterschiedlichkeit, die sich das ganze Leben – wieder auf unterschiedlichste
Art und Weise – bemerkbar macht. Zum Beispiel, um beim Thema zu bleiben, auf
Toiletteanlagen.
Als leitende Redakteurin einer technisch-wissenschaftlichen
Fachzeitschrift nahm ich oft als einzige Frau an Fachtagungen und
Pressekonferenzen teil. Wenn es sein musste, suchte ich in Pausen die Toilette
auf. Natürlich allein, da ich ja die einzige weibliche Tagungsteilnehmerin war.
Wären noch andere Frauen anwesend gewesen, hätte ein gemeinsamer Aufenthalt im
Waschraum der Toiletteanlage wahrscheinlich, außer zur Erneuerung der Schminke,
auch zum Austausch privater Angelegenheiten gedient. Sozusagen zum
gegenseitigen Kennenlernen.
Ganz anders dürfte es sich bei Männern
abspielen. In Pausen von Geschäftsbesprechungen, Konferenzen, politischen,
wissenschaftlichen oder sonstwie weltbewegenden Zusammenkünften ist es gängige
Praxis, dass mehrere gemeinsam die Toiletteanlagen – das Pissoir - aufsuchen. Denkbar,
dass das gemeinsame Erleben von Erleichterung nach erfolgtem Wasserlassen
ehemalige Kontrahenten zumindest kurzfristig zu Kumpel zusammenschweißt, die
Übereinkünfte treffen, die sie zuvor niemals getroffen hätten. Ein zeit-,
generationen- und weltumspannendes Phänomen. Ist das einer der Gründe, weshalb
sich Männerherrschaft dermaßen nachhaltig etablieren konnte? Weltreiche,
Kulturen und Religionen kamen und gingen. Doch das Patriarchat hat all dieses
Kommen und Gehen überdauert. Haben sich Männer ihre Herrschaft über die Welt
und über alles, was sich auf und in ihr befindet, erpinkelt? Diese
Schlussfolgerung scheint mir angesichts vorangegangener Überlegungen keineswegs
aus der Luft gegriffen zu sein.
Abschließend sei noch eine Seltsamkeit erwähnt,
die mir nachdenkenswert erscheint. Im Jahr 1987 wurde in Brüssel als Gegenstück
zum Manneken Pis ein hockendes urinierendes Mädchen als Brunnenfigur
geschaffen, das sogenannte Janneken Pis. Durchaus möglich, dass damit ein
Zeichen im Sinne des Gleichbehandlungsgrundsatzes gesetzt werden sollte, um
radikale Feministinnen davon abzuhalten, auf die Barrikaden zu gehen. Wie dem
auch sei, in meinen Augen ein groteskes Unterfangen, zumal 1998 der Zinneke
Pis, ein pinkelnder Bronzehund, hinzukam. Ein bizarres Triumvirat unter dem
Zwölfstern-Banner der Europäischen Union, das für Christen die Krone der
Sternenkönigin Maria symbolisiert. Was das wohl zu bedeuten hat?