Donnerstag, 12. Dezember 2013

Advent des Lebens


Und das Licht leuchtet in der Finsternis 
und die Finsternis hat es nicht erfasst.  
Joh. 1, 5

Gedanken zur stillsten Zeit des Jahres

 

In der westlichen Welt zählt der Advent längst nicht mehr zur stillsten Zeit des Jahres. Nach wie vor ist er jedoch – zumindest in unseren geographischen Breiten – die dunkelste Jahreszeit, da bis zur Wintersonnenwende die Tage immer kürzer und die Nächte länger werden. Von Natur aus ist der Mensch jetzt vermehrt ruhebedürftig, und er wäre gut beraten, diesem Bedürfnis wenigstens ab und zu nachzugeben und den Advent, die Zeit des Wartens auf die Heilige Nacht, für mehr Besinnung, für Rück-, Vor- und Innenschau zu nutzen. Dann könnte es geschehen, dass sich der durch dunkle Weltennacht irrende Mensch auf das wahre Ziel seiner Hoffnung und Sehnsucht besinnt und – sofern es erforderlich ist – das zulässt, worunter in der christlichen Mystik die „Nacht der Sinne“[1] verstanden wird.
Was ist unter der Nacht der Sinne zu verstehen, die wohl für jeden Menschen irgendeinmal anbricht und die ebenso gut als Adventzeit des Lebens bezeichnet werden könnte?
Für jeden Menschen kommt früher oder später der Augenblick, da der Abglanz materieller Werte und herkömmlicher Wertvorstellungen durch Umstände, die wir zumeist als widrig bezeichnen, verblassen. Wir fühlen uns ausgestoßen, zurückgewiesen, wertlos und aus unserer äußeren sowie inneren Heimat vertrieben. Orientierungslos tappen wir umher und suchen unseren Weg in einem Irgendwo, in dem es - zumindest dem momentan getrübten Wahrnehmungsvermögen nach - stockdunkel ist. Wir vermeinen, allein gelassen und ungeliebt in unabsehbar Abgrundtiefes zu stürzen.
Was wir als grausamen Schicksalsschlag erleben, ist oft nur die Beseitigung einer von uns mühsam errichteten Bühnendekoration einer Theaterscheinwelt, die uns dermaßen faszinierte, dass wir darüber den wahren Sinn unseres Daseins vergaßen, blind für die hinter dieser Scheinwelt wirkenden Kräfte und taub für eine andere Stimme als die unseres Egos geworden sind. Wenn Trugbilder verblassen und Gauklerlieder verstummen, senkt sich die Nacht der Sinne über uns, in deren Dunkelheit alles, was uns bisher erfreute, zerfließt. Dann fragen wir uns, wie es geschehen konnte, dass wir uns auf einmal wie Blinde und Taube vorkommen.
Weshalb sind wir in die Dunkelheit gestürzt? Es geschah, da wir die einzige sichere Stütze des so genannten Unfassbaren losließen und meinten, das unseren Gedanken, Gefühlen und Händen Fassbare festhalten zu müssen. Dem Abglanz haben wir gehuldigt, als sei er nicht Abglanz, sondern Quelle des Lichts, unsere Sicherheit haben wir in der sichtbaren Welt, die ständigem Wandel unterworfen ist, gesucht und wollten dem Wandelbaren den Stempel der Beständigkeit aufprägen. Unserem Eigen-Sinn sind wir aufgesessen und haben diesen mit dem Sinn des Lebens verwechselt. Wenn die Irrlichter des Augen-Scheinlichen verblassen, tut sich vor unseren Augen eine Finsternis auf, dass wir befürchten, die Sonne sei für immer untergegangen.
Die meisten von uns haben solche Zeiten bereits durchgemacht, manch einer erlebt sie vielleicht eben jetzt. Und diesen möchte ich eine überaus wirksame Zauberformel verraten, wodurch Unerträgliches in Erträgliches verwandelt wird. Es ist dies ein schlichtes „Ja“ zu dem, was ist und wie es ist. Nicht durch Auflehnung gegen eine Situation, sondern durch das Annehmen derselben werden zerstreute Kräfte gesammelt, was zuerst einmal das Durchhaltevermögen stärkt, das auf dem Weg während der Adventzeit des Lebens vonnöten ist, da wir unter Umständen eine beachtliche Durststrecke im Niemandsland zwischen Schein- und Seinswelt zurückzulegen haben. Wir lassen Ägypten, das Land weltlicher Prunkentfaltung, mit all seinen Schatzkammern, prächtigen Palästen und Tempelanlagen hinter uns und machen uns auf den Weg ins gelobte Land. Doch zwischen Ägypten und dem gelobten Land liegt die Wüste.
Man sagt von der Nacht der Sinne, sie sei eine Zeit innerer Trockenheit. Und der Weg führt uns mitten hinein in die innere Finsternis und Trockenheit. Allein auf unsere äußeren Sinne können wir uns da nicht mehr verlassen. Wir sind gezwungen, nach Innen zu schauen und zu lauschen, da es scheint, als würde von außen keinerlei Hilfe zu erwarten sein. Und das ist auch der eigentliche Zweck der Übung, der Zweck der Misere oder wie immer wir es nennen mögen.
Wenn sich im Äußeren nichts mehr als Rettungsanker anbietet, sind wir gezwungen, nach innen zu gehen. Und bereits der erste Schritt in diese Richtung zählt wohl zu den wichtigsten unseres bisherigen Lebens, wenngleich es den Anschein erweckt, als würde rein gar nichts geschehen. Doch das sieht nur anfänglich so aus.
Wir sind unterwegs zu einer Quelle, die tief in unserem Inneren entspringt. Diese Quelle allein vermag es, den Durst unserer Bedürftigkeit zu stillen. Dort dürfen wir uns laben und ungestraft aus einer Fülle schöpfen, die niemals versiegt. Dort werden Wunden geheilt, die uns geschlagen worden sind, und die Spuren von Tränen, die wir geweint haben, werden hinweg gewaschen. Und am Grunde des Gewässers funkelt ein Edelstein, in dessen Schliff sich das Licht einer Sonne bricht, die, unvergleichlich strahlender als die Spenderin des weltlichen Tageslichts, am Firmament unseres innersten Seins leuchtet. An diesem Licht erhellen sich unsere Augen. Sie werden sonnenhaft und somit wahrhaft sehend. Nur das seinem Wesen nach Lichthafte kann Licht erkennen und demzufolge ausstrahlen. Die Nacht der Sinne lichtet sich.
Es gibt ein Lied, dessen Refrain lautet: „Oh Licht vom Lichte.“ In jedem Menschen ist ein derartiges Licht vom Lichte. Das ist das Lebenslicht oder der Seelenfunke, es ist das in die Materie gefallene, das von Materie umschlossene Licht. Es ist das Licht, das in der Finsternis leuchtet, aber die Finsternis kann es nicht begreifen und erkennen. Mit Finsternis ist die Materie gemeint und alles auf die Materie ausgerichtete Denken, Fühlen und Handeln. Dieses Licht zu begreifen, zu erkennen und zu sehen, ist nur dem Licht selbst oder dem, der zu Licht geworden ist, möglich. Und wir werden zu Licht, sobald wir es in uns selbst erschauen.
Wenn dies geschieht, haben wir den Advent des Lebens mit seiner Düsternis und Trockenheit hinter uns gelassen, und die Weltennacht wird zur Heilige Nacht, in der uns der Stern der Führung leuchtet, dem wir gleich den Weisen aus dem Morgenland folgen können, bis wir am Ziel der Reise angelangt sind. Dort, im Stall zu Bethlehem, wurde ein Kind geboren, eine göttliche Liebesgabe an die Menschheit. Das wahre Wunder der Heiligen Nacht ist die Geburt des Heilands. Und er, der das Licht der Welt ist, wurde aus dem Schoß einer Frau geboren.
Doch was wäre das für ein armseliges Wunder, würde es sich auf das Geschehen irgendeiner Nacht in irgendeinem fernen Land beschränken, von dem Menschen einander von Generation zu Generation wundersame Geschichten erzählen. Das, wovon geschrieben steht, es habe sich vor etwa zweitausend Jahren in Bethlehem zugetragen, kann jederzeit in jedem Menschen stattfinden. Wir sind auf diese Welt gekommen, um die Geburt des göttlichen Kindes in uns selbst zuzulassen und zu erleben. Alles kann jederzeit wie eben in jener Nacht wieder geschehen. Sogar der Stall als Geburtsstätte, Ochs und Esel, Heu und Stroh sind immer und überall vorhanden. Denn der Stall ist nichts anderes als unsere Körperlichkeit, die, mehr oder weniger gut zurecht gezimmert, unsere animalische und vegetabile Natur – also Heu und Stroh, Ochs und Esel - beherbergt.
Man kann es drehen und wenden, wie man will. Ein Stall bleibt ein Stall, egal ob es sich um einen großen und mit allen Schikanen ausgestatteten oder um einen kleinen handelt. Zur geheiligten Stätte wird er erst durch das Mysterium der Heiligen Nacht, durch das Kind des Lichts, das aus dem Schoß des inneren, mütterlich-jungfräulichen und bedingungslos liebenden weiblichen Prinzips geboren worden ist.
Es ist die Seele, aus der das Licht unseres Lebens hervorgeht, aus der es in uns geboren werden kann. Erst dadurch werden wir zu dem Menschen, als der wir von Anfang an gedacht waren. In diesem Licht erschauen wir unser wahres Selbst und sind infolgedessen in der Lage unsere Aufgaben zu erkennen und diesen nachzukommen.
Mystiker bezeichnen die Seele als die Braut des Göttlichen, die in die materielle Welt herabgestiegen ist. Sie ist Trägerin und Hüterin des Seelenlichts, das aus ihr hervordrängt. Doch in der Stunde ihrer Niederkunft wird ihr in Palästen, vornehmen Häusern und so genannten ordentlich geführten Herbergen kein Quartier gewährt. Zu sehr ist man dort mit Wohlstandsaktivitäten aller Art ausgelastet, stellt sich taub, überlässt derlei Scherereien lieber irgendwen, der gerade nichts Wichtigeres zu erledigen hat. Infolgedessen vollzieht sich das Wunder in einem armseligen Stall, fernab des Weltgetriebes.
Aber nicht nur in religiösen und mystischen Schriften werden die verheerenden Folgen für Mensch und Natur aufgezeigt, die durch die Missachtung und Verstümmelung seelischer Kräfte hervorgerufen werden. Viele der bekanntesten Märchen und Sagen kreisen ebenfalls um dieses Thema. Denken wir nur an das Aschenputtel, an das Schneewittchen, das Nusszweiglein oder an das Mädchen ohne Hände.
In diesen Geschichten wird das Mädchen als Sinnbild der Seelenkraft zu niederen Diensten herangezogen, verstoßen, um materieller Werte wegen verschachert, verstümmelt, nicht selten trachtet man ihm sogar nach dem Leben. Die Seele, ausgestattet mit dem Attribut des Weiblichen, hat meist ein schweres Los zu ertragen, das ihr, wie in all diesen Geschichten erzählt wird, niemand anderer als der Mensch auferlegt - ebenso wie auch nur der Menschen sie wieder aus ihrer Not befreien kann.
Unser Wert ist nicht von äußerer Macht und von weltlichem Besitz abhängig. Jeder Mensch ist einzigartig, und das Wunder - vergessen wir es nicht - vollzieht sich im Verborgenen. Wenn wir guten Willens sind, werden wir das Licht, das in der Finsternis leuchtet, sehen. Wir werden es in allem und in jedem sehen - auch in den Augen jener, die, von Leid niedergedrückt, der Hilfe bedürfen. Jedes Leid ist schmerzlicher Ausdruck des in der Materie gefangenen Seelenlichts, das sich nach Befreiung sehnt. Selbst sehend geworden, werden wir uns diesem unter dem Staub des Vergänglichen fast erstickten Licht zuneigen und helfen, dass es in seinem Elend nicht völlig verlöscht.
Es ist das Licht des Mitgefühls und der Nächstenliebe, das sich durch uns in der Welt des Augenscheinlichen manifestieren kann. Durch dieses Licht kann uns selbst, unserem Nächsten, ja der ganzen Welt Heilung zuteil werden.

Mystischer Wald
Foto: Anna Manger

Wien, 10. Dezember 2013 


[1] Johannes vom Kreuz (1542 – 1591), spanischer Mystiker und Dichter, sagte, die Seele müsse zuerst einmal die Nacht der Sinne durchwandern, um Vollkommenheit zu erlangen. Während der Nacht der Sinne herrsche innere Finsternis und Trockenheit, man fühle sich von allem und jedem, ja sogar von Gott verlassen. Und dennoch sei diese Nacht eine selige, da die Verfinsterung des Geistes keinen anderen Zweck habe, als die Seele in jeder Hinsicht zu erleuchten.

2 Kommentare:

  1. Liebe Philomena, ich danke Dir aus ganzrem Herzen!
    Es ist eine Seelensalbung,die Du da von Dir gibst.
    Es enthält dieser Text allles und so weitreichendes Verstehen in allen Tiefen, daß ich mir erlaube, unsere Weihnachtsmeditation am 20.12. an Hand Deines Textes einzuleiten.
    Möge dein Seelenlicht viele Menschen erreichen und er-lichten! Danke für deinen Blog, den ich sehr gerne und aufmerksam lese und auch empfehle.
    Gottes Segen sei mit Dir und den Deinen!
    Gesundheit, Glück und Erleuchtung seien mit Dir!
    Seelen wie Du machen die Welt heller!
    Danke!

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  2. Es freut mich, dass meine Worte nicht nur in den Wind geschrieben wurden. Daher danke ich herzlich für den Kommentar.
    Mit lieben Grüßen Rosemarie Philomena

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