Seit neuestem wird der Naschmarkt wegen seiner Literaturveranstaltungen am Textstand auch „Wiener Parnass“ genannt. Das bekam ich anlässlich der Lesung aus meinem Buch „Er nannte mich Wardi“ zu hören. Daher begann ich nachzudenken, was es mit dem Begriff Parnass auf sich hat.
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Beliebt beim Publikum, die Literaturveranstaltungen am Naschmarkt |
Der Parnass ist ein sagenumwobener Gebirgszug in Griechenland. An seinem Fuß liegt Delphi, das für die Menschen der antiken Welt der Nabel der Welt und die bedeutendste Kultstätte war. Außerdem, so heißt es, seien die Höhen des Parnass die Heimstatt Apollos und der neun Musen, den Töchtern des Zeus mit Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung. Die neun Musen galten als die Schutzgöttinnen der schönen Künste, die beflügelnd auf das Erinnerungsvermögen und Gedächtnis der epischen Sänger (Dichter) einwirkten, damit Geschehenes und Wahrheiten nicht durch den Raster des Vergessens fielen. Seit jeher sind es Literaten und Dichter, durch die Wortgestalt annehmen kann, was im kollektiven Unterbewusstsein der Menschheit schlummert.
Zudem war der Parnass der Sitz von Dionysos, dem Gott der einfachen Leute, der Bauern, des Weines und des Rausches. Wenngleich Dionysos als der Widersacher von Apollo, dem Gott des Lichts, der Musik und Weissagung, galt, waren die beiden schon allein ihres gemeinsamen Wohnsitzes wegen eng miteinander verbunden. Friedrich Nietzsche verwendete das Begriffspaar „appolinisch-dionysisch“, um die den Menschen innewohnende Gegensätzlichkeit von Charakterzügen zu beschreiben.
Im übertragenen Sinn gilt der Parnass als Inbegriff der Lyrik. Im Paris gibt es das Viertel Montparnasse (Berg Parnass). Im 17. Jahrhundert soll es üblich gewesen sein, dass sich Pariser Studenten in diese damals sehr idyllische Hügellandschaft begeben haben, um Gedichte zu rezitieren. Deshalb wurde dieses Viertel nach dem Berg der Musen benannt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlangte der Montparnasse als Pariser Zentrum des intellektuellen und künstlerischen Lebens Weltberühmtheit.
In Österreich gibt es seit etwa 25 Jahren eine Kunstzeitschrift, die ebenfalls „Parnass“ heißt, sich allerdings hauptsächlich mit bereits etablierter Kunst befasst. Die für die Allgemeinheit oft geheimen Geburtsstätten gegenwärtigen Kulturgeschehens werden kaum erwähnt.
Fazit: Der „Wiener Parnass“ hat weder etwas mit der zuvor genannten Zeitschrift zu tun noch ist er ein Berg. Er befindet sich auch auf keinem Hügel, wie das in Paris der Fall ist. Der Wiener Parnass ist ein Geheimtipp für Literaturliebhaber. Er befindet sich am Naschmarkt, auf der Überwölbung des Wienflusses. Und wir werden beobachten, wie sich die Sache mit dem Textstand weiter entwickelt.
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